Süddeutsche Zeitung vom 22.10.2015

Er riecht an Klobürsten, kriecht unter fremde Betten und hat immer ein eigenes Kopfkissen dabei: Hoteltester mit Spionage-Auftrag.

Von Jan Freitag

Und dann findet er doch was. Wie der strenge Majordomus im Haus am Eaton Place wischt Knut Hansen mit dem Zeigefinger über die Oberkante der Badezimmertür: „Staub!“ Er wiederholt die Prozedur. „Das geht nicht.“ Erst beim dritten Anlauf bleibt nichts mehr an seinen Fingern kleben. „Aber hier kommt ja auch nicht jede Putzfrau ran.“ Er lächelt leicht gönnerhaft und fällt sein Urteil: „Nicht nennenswert.“ Ein milder Schuldspruch an diesem nennenswert schönen Tag.

Knut Hansen ist, man ahnt es, kein normaler Gast im Lindner Park-Hotel Hagenbeck. Er testet das Haus am Hamburger Tierpark im Auftrag von Varta, dem ältestem Gastronomie-Führer Deutschlands. Seit 1957 bereits lässt Varta nicht nur Restaurants testen, sondern alles, was Menschen zwischen Flensburg und Füssen auf Zeit beherbergt. Nun also das Park-Hotel Hagenbeck. Es liegt hinter den Zäunen jenes Zoos, der das Haus bis in den letzten Winkel prägt. Überall hängen Skulpturen, Reliefs und Bilder, Mitbringsel, Masken und Kunst aus Afrika, Asien, der Antarktis. Minimalisten mögen es überfrachtet finden, Knut Hansen nennt das Ambiente „dezent, aber sichtbar“. Alles in allem also nennenswert, sagt der unsichtbare Experte auf einem seiner Geheimbesuche und macht ein virtuelles Häkchen im Kurzzeitgedächtnis.

Davon folgen bald Dutzende, immer, wenn ihm irgendwas zusagt oder missfällt, meist ist es ersteres. Schon beim Check-In scannt er die ausladende Eingangshalle, diskret und gründlich wie eine Überwachungskamera. Seitenblick links über den Tresen. Alles ordentlich: Häkchen. Seitenblick rechts, zum Fahrstuhl. Gut erreichbar: Häkchen. Rückenblick ins Kolonialmobiliar. Angenehm stilvoll: Häkchen. „Das Gerüst an der Außenfront ist länger da?“, fragt er die Rezeptionistin süßlich, aber bestimmt und stellt sich als Geschäftskunde vor. Unterschrift, Chipkarte, angenehmen Aufenthalt, Lächeln hier, Lächeln dort – es ist das vielfach aufgeführte Erfolgsstück des Fremdenverkehrs, die Courtoisie gastronomischer Diplomatie, eher souverän als empathisch vorgetragen, selten von Herzen, nie ganz verlogen. Nur, dass diesmal einer der Darsteller falsch spielt – ein Spion im Auftrag künftiger Kunden. Er heißt sogar anders, als es auf der Visitenkarte steht. Sein Name ist schöner als Knut Hansen, fast poetisch. Aber den echten Namen darf keiner wissen innerhalb der Branche des berufsbedingten Inkognitos.

Inkognito geht es nun aufwärts, zweite Etage, an steinernen Löwen, künstlichem Vogelgezwitscher, ausgestellter Exotik vorbei aufs eigentliche Testgelände: ein Standarddoppelzimmer, Economy Class. Was der Durchschnittsgast mit überdurchschnittlichem Anspruch ans Preis-Leistungs-Verhältnis so bucht in Häusern der Kategorie „Vier Sterne Superior“, die der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband dem Hagenbeck-Hotel verliehen hat. Ob es auch drei Diamanten der Varta-Skala wert ist – um das herauszufinden, entledigt sich Hansen sogar seiner unprätentiösen Lederjacke überm weinroten Hemd der Sorte Dreierpack.

Nachdem Lichtsituation (hell), Verdunkelung (total), Materialwertigkeit (anspruchsvoll), Arbeitsbereich (großstadtgerecht), Minibar (gut gefüllt), Klimaanlage (fern der Nebenhöhlen) und Dekors (angebracht) bei Abzug für die Sitzgelegenheiten (könnte ein Sessel mehr sein) Bestnoten für das eingefahren haben, was der Fachmann Hardware nennt, fliegt Hansens wuchtiger Leib aufs Boxspringbett. „Das Herzstück jedes Zimmers“, sagt er und greift ins Kissen. Sauber, frisch, „super“. Neben „stimmig“ ist dies der dritte Begriff wohlwollender Kategorisierung. Bis es ans Eingemachte geht: Hygiene. Hiermit steht und fällt das Gütesiegel. Essensreste am Boden? Haare im Ausguss? Fleckige Keramik? Fugenschimmel? Das Gruselregister der Vernachlässigung, dem schon mal ein Edelstein zum Opfer fällt, bleibt trotz des Staubs auf der Badezimmertür leer. Ergo: „Alles super.“

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Doch bevor er sich dieses Urteil bildet, klettert Knut Hansen mit seinen 56 Jahren auf Möbel, kriecht unters Bett, riecht an der Klobürste – am vierten Tag in Folge, im vierten Hotel der Region. Am nächsten Tag wird das fünfte folgen. Wie jede Woche, Nacht für Nacht. Es ist ein Leben in fremden Betten, für das Knut Hansen bestens vorbereitet ist. Er hat gastronomische Erfahrung, Lust am Reisen, fünf hellwache Sinne. Und sein eigenes Kissen dabei.

Das vergisst Knut Hansen so wenig wie seinen Rucksack mit Kleiderschrankfunktion. Er habe das Kissen aus Gewohnheit dabei, sagt er. Und zum Selbstschutz. Hotels, tausendfach bewohnt von Menschen, bieten ja auch Milliarden mikroskopisch kleiner Begleiter Heimat, die selbst gewissenhafteste Pflege nie auszumerzen vermag. Und nicht nur das. Sein Job, räumt der Wochenendvater dreier Kinder ein, sei zeitintensiv und einsam. Stets sei er allein im Hotel, an dessen Bar nicht mal Berufliches erwähnt werden dürfe.

Dennoch hat Hansen, der früher Koch war und ein eigenes Restaurant besaß, den Wechsel zur anderen Seite nie bereut. Er freut sich nun „auf einen schönen Abend mit gutem Essen und feinem Wein“. Im Lindner sei beides, nun ja – Knut Hansen kaut auf der Formulierung so lang rum wie auf den Jakobsmuscheln: „solide.“ Die Gurken fade, der Salat salzig, das Personal eher „freundlicher Bring- und Abräumdienst“ als exquisiter Service – da reicht auch ein leckeres Korianderhuhn mit Quinoa nur zu Messer und Gabel als Symbol für warme Küche ohne lobenden Text. Zumal beim Frühstück der Lachs vergriffen sein wird. Doch auch hier: nicht weiter nennenswert. Das Ambiente, es „reißt vieles raus“.

Das sieht Fabian Engels kritischer. Den fehlenden Fisch bezeichnet der Lindner-Chef ebenso als nicht hinnehmbar wie die staubige Tür. Engels leistet „etwas ratlos“ Abbitte für den „temporären Fehler“. Schließlich weiß er, was so ein Rating bedeutet. „Aufmerksamkeit und Vertrauen“ seien Leitwährungen im Kampf um Gäste, besonders auf dem Schlachtfeld Hamburg, das nur 22 von 1500 Varta-Seiten füllt, obwohl die Stadt mit ihrer gewaltigen Zahl an Hotels ein Vielfaches schaffen würde.

Im Buch aber gehe es eher um nationale als um lokale Vollständigkeit, betont der schwäbische MairDumont-Verlag angesichts von 50 000 Beherbergungsbetrieben im Land, von denen es nur jeder achte in den Guide schafft. Und es gehe um Qualität, die dem Schwarmwissen zahlloser Online-Portale Expertise und Professionalität entgegensetzt. Dafür reisen die Tester seriöser Guides unentwegt durchs Land, werfen sich in Betten, riechen an Klobürsten, schalten Geschmack, Neigung, Befindlichkeiten für zwölf Stunden so weit wie möglich ab und freuen sich, wenn ihr Earl Grey an den Frühstückstisch serviert wird.

Im Zoo-Hotel muss ihn sich Knut Hansen selbst holen. Er lächelt leicht gönnerhaft: „Nicht weiter nennenswert.“

Der Varta-Führer 2016 ist seit Oktober auf dem Markt, gebundene Ausgabe 29,99 Euro; www.varta-guide.de

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