Die krumme Wahrheit
Es gibt Lebensmittel, bei denen man sich fragt: Darf man die überhaupt noch zeigen? Ich spreche von der Gurke. Zu lang, zu glatt, zu krumm, zu deutsch. Ein Gemüse, das alles gleichzeitig sein will und dabei oft nur nach Wasser schmeckt. Außerdem ist sie grün. Zu grün. Das hat mir mein Nachbar gesagt.
Ich habe überlegt, ob ich mein neues Gurkenbild überhaupt veröffentlichen darf. Es ist – sagen wir: sinnlich. Eine kleine Hommage an das längliche Gemüse. Unbearbeitet, roh, verletzlich. In Zeiten der Dauerempörung ist schon das ein Wagnis. Aber keine Sorge: Es bleibt jugendfrei. Fast.
Gurke, bitte inklusiv
Wir Deutschen schaffen es, eine Gurke in sechs Varianten zu servieren, nur damit sich wirklich niemand ausgegrenzt fühlt. Geschmacklich hilft das, der Vielfalt auch. Politisch? Vielleicht beruhigt es das kollektive Gewissen.
Typisch deutsch: ordentlich aufgereiht, sauber abgeschmeckt, mit Dill, ohne Zwiebel, laktosefrei, regional, saisonal – und bitte mit Etikett.
Ich habe das beim Gurkensalat gemacht:

Was tun wir nicht alles für die Rücksichtnahme? Für das Gefühl, niemandem auf die Füße zu treten. Der Gedanke bringt mich beim Kochen für Gäste regelmäßig in Schwierigkeiten.
Dabei ist die Gurke noch harmlos. Zuletzt hatte ich Gästen ein Schwarzwälder-Kirsch-Dessert serviert – und wurde darauf hingewiesen, Brownies seien sensibler.

Die Assoziationen? Amerika. Kapitalismus. Musk, Bezos, der ganze Club der Milliardäre mit Weltherrschaftsambitionen.
Ergo: Keine Brownies. Lieber Schokoladenkuchen. Das ist übrigens kein Witz, sondern Alltag in der Küche. Und erfordert sehr viel Disziplin.
Die Gurkensuppe: Disziplin am Teller
Ich serviere das nächste Mal kalte Gurkensuppe. Klassisch. Sie schmeckt wie Bundesgartenschau auf Porzellan: kühl, korrekt, kompromisslos. Ein Gericht wie ein Verwaltungsakt – nicht zu langweilig, nicht zu würzig, unauffällig.

Und genau deshalb liebe ich sie. Sie erinnert mich daran, dass kulinarische Identität aus Zubereitung besteht – nicht aus Zerreden. Mir ist klar geworden: Wer kocht, übernimmt Verantwortung. Auch für die Gurke.
Krumme Dinger oder lieber die ganz kleinen?
Die krumme Gurke ist nicht das Problem – sondern das Land, das sie geradebiegen will, bevor sie auf dem Teller landet.
Ich frage mich: Welche Gurke darf es heute sein? Die krumme aus dem Hofladen, mit Charakter? Die EU-normierte aus dem Supermarkt, perfekt in Form, geschmacklich angepasst? Oder die ganz kleinen, zarten, saftig-grünen Dinger aus dem Delikatessenkorb, die man nur noch heimlich kauft? Bloß keinem Gast vorsetzen – sonst denken die, du hast zu viel.
Was bleibt
Vielleicht ist es das, was ich sagen will: In einem Land, in dem die Gurke schon zum Problem wird, ist die Küche oft der letzte Ort für echte Klarheit. Nicht alles muss jedem schmecken. Aber alles sollte mit Geschmack gemacht sein.
Ich habe mich entschieden: Ich bleibe bei der krummen Gurke. Ich serviere kalte Suppe. Und ich nenne den Brownie weiter Brownie.
Weil Geschmack keine Ideologie braucht – nur gute Zutaten und eine ruhige Hand.
In diesem Sinne: Bleib krumm, bleib echt – und iss öfter mal Gurke.
Ich wünsche Dir einen wundervollen Juli!
Beste Grüße Thomas Sixt

Thomas Sixt ist Koch und Food-Fotograf. Als Buchautor betreibt er den Rezepte-Blog ThomasSixt.de und schreibt die monatliche Foodblog-Kolumne für den Varta-Führer.
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